Start Allgemein W:O:A 2023: Impressionen vom Schlamm-Wacken

W:O:A 2023: Impressionen vom Schlamm-Wacken

850
0

Abgrundtief im Acker

Jeder Schritt fühlt sich an, an zöge jemand die Gummistiefel tief in den Acker. Der Holy Ground, von Fans als Wackenmeer getauft, ermöglicht in diesem Jahr erneut Schlickwanderungen mit Schlittschuhfeeling. Oder Urlaub jenseits der Komfortzone. Statt Shine nur Rain bei der Anreise – Schwierige Bedingungen für das Wacken Open Air 2023, auch für die Bands.
Für euch vor Ort kämpfen wir Reporter uns mit minimalem Schlaf, wunden Füßen und immens viel Bock auf alles Musikalische zwischen Metal und Nicht-Schlager auf – und über die heiligen Wiesen gestandener Festivalkultur. Weil alles viel teurer ist, geben wir enorm viel Geld aus.

Für die Menschen, die rund um, oder für das Wacken Open Air leben gilt, sämtliche Kräfte zusammenraffen, um die anreisenden Fans zu versorgen. Diese müssen sich in enorme Geduld fassen und nicht wenige davon werden mit ihren PKW oder Wohnmobilen auf die Campingflächen gezogen. Wobei lange unklar bleibt, ob das W:O:A überhaupt stattfindet.
Die Behörden stellen grob zusammengefasst am Dienstag fest: Starkregen ist kein Grund, das Festival zu untersagen, und schieben die endgültige Entscheidung dem Veranstalter zu. Dieser entscheidet, Wetter und Situation zu beobachten, die Fans zu bitten, ihre Anfahrt zu verlegen, um am gleichen Abend schließlich einen kompletten Anreisestopp zu verhängen. Was dann geschieht, hätte man vorhersehen können.

Somit spekuliert das Social-Media-WOA-Netz, ob das Wacken Open Air erstmalig abgesagt wird. Die Bilder der sumpfähnlichen Flächen lassen Schlimmes erahnen, obwohl Wackengänger schon aus langjähriger Gewohnheit als wetterfest gelten. Die endgültige, offizielle Entscheidung der Veranstalter schiebt sich Stunde um Stunde und somit sitzen alle noch nicht Angereisten auf heißen Kohlen.
Einzig das erfahren die Fans am Dienstag: Für diejenigen, die bereits vor Ort sind oder irgendwie zum Gelände kommen, findet das Programm wie geplant statt. Ohne Campen, ohne Tages-Parken, ohne Absage. Für die Zuhause Verweilenden unverständlich kündigt die App für den erstmalig vierten Wacken-Tag weitere Highlights an: Deine Cousine und die Broilers werden die großen Bühnen rocken. Am Mittwoch stehen die Stände der Händler, die Bands rollen an, die Bühnen stehen einsatzbereit, und – genau: Es regnet weiter.

Der Mittwoch

Wer schlussendlich aufs Infield mit den Hauptbühnen Faster und Harder darf, bleibt spekulativ. Denn die Bändchenausgabe für die gekauften Tickets ist laut Social Media in vollem Gang, sowohl am Ausweichstandort Hungriger Wolf wie auch am Einlass zum Festivalgelände.

 

Derweil startet kurz nach Mittag das Programm auf der Wackinger Stage, wer hier verweilt, bekommt die angesagten Acts zu sehen. Der Metal Battle auf W:E:T und Headbanger dagegen findet nicht wie geplant statt. Wer wann und wo auf der Bühne steht, sagt uns die App, trotz gegenteiliger Ansage, nicht. Die Bands wären nicht vollständig erschienen, hören wir im Flurfunk. Die Eröffnung des Infield allerdings verschiebt sich stündlich, drei Bands entfallen, bis es um 18 Uhr endlich soweit ist. Zeitgleich starten Battle Beast auf der Louder Stage, Heavy Metal aus Finnland lässt das Fest beginnen, der Anreisestress fällt ab.

Beim und nach dem Auftritt der Broilers bleibt es zumindest für einige Stunden trocken. Ihr erster Song: „Walking on sunshine“. Der Wettergott muss Punkrocker sein. 20.000 Schritte später wanken wir ins Zelt, zu kaputt, um in den Schlafsack zu kriechen. Es ist 1:25 Uhr, mit dArtagnon und Doro haben wir bisher vier Bands gesehen. Exakt eine Stunde später starten unsere internationalen Nachbarn ihre lautstarke Party. Gemessen an den Dieselgeneratoren vom letzten Jahr, ziehen wir diese nicht stinkende Alternative vor. Anschließend klappen Autotüren, ein Quad rauscht durch. Am frühen Morgen verfestigen Trecker den Zufahrtsweg, jemand schnarcht, ein menschliches Wesen schlappt vorbei zum Waschzelt. Leben in der Zeltstadt. Willkommen auf Wacken.

Crazy – but it´s true Thursday

Der Donnerstag zumindest startet trocken. Ad Infinitum ist unsere erste Symphonic-Metal-Anlaufstelle auf dem Wackinger Gelände, welches linksseitig der Bühne einem Entenpfuhl gleicht. Plitschplatsch geht es anschließend auch ohne Alkohol schwankend weiter zur Wasteland-Stage, Brunhilde rockt mit Punk und Metal. Kurz vor Kaffeezeit wartet der Krombacher Stammtisch mit den Electric Callboy-DJs auf, die mit allem was populär Partytauglich ist, die versammelte Menge in Stimmung bringen. Döpdöpdöp plus Crowdsurfing.

Wir verpassen Cemican, Skyline, Unzucht, Uriah Heep, Hammerfall und Halloween. Dafür kommen Eivør, Faun und Vixen in unsere Foto-Galerie. Exakt so, und nicht anders funktioniert Wacken. Weil du, der du dabei bist, einfach immer Leute triffst, die dich gekonnt davon abhalten, Vorsätze durchzuziehen. So wie Frederic, der auf Krücken unterwegs ist und uns mit seiner Geschichte einfängt. In Kürze: Klippenspringen auf Thassos aus 10 Metern Höhe, statt Arschbombe mit geraden Beinen aufgekommen, es war keine gute Idee. Darauf folgen ein zerstörter Ischiasnerv, endlose Monate Krankenhaus, die eingeschränkte Gehfähigkeit und – irgendwann in der Zukunft lauert der Rollstuhl auf ihn.
Die Merch-Aufnäher auf seiner Hose zeugen davon, wie wichtig es für ihn ist, nicht nur Löcher zu stopfen, sondern sich eigene Ziele zu setzen. Wobei mit Gehhilfen im Schlamm unterwegs zu sein, entweder als mutig oder verrückt bezeichnet werden darf. Das Gute ist, auf die Hilfsbereitschaft der Metalheads kannst er sich zuverlässig verlassen. Der feiernde Frederic macht nachdenklich, und der tückische Schlamm bis zum Einlass flüstert uns zu: Mach lieber langsam.

Die zweite Nacht ohne Schlaf ähnelt einem auf Lautsprechern zu liegen, Ein Blast, veranstaltet von unsere Camp-Nachbarn, die als Juroren den Metal Battle auswerten und die Kandidaten begutachten, die nach dem Mittwochs-Orga-Chaos am Donnerstag auftreten durften, und wir notgedrungen mit. Musikalisch gesehen eindeutig eine Verbesserung gegenüber dem gestrigen Tag. Wobei die späteren Gewinner, Phantom Excaliver aus Japan mit ihrem Heavy Metal auch uns auflauschen lassen. Geräuschvoll endet die Nacht.

Irgendwo quietscht eine Gummimatratze, ein Paar stöhnt – in Wollust? Nebenan erzählt eine Frau einem Camp-Nachbarn ihre Lebensgeschichte auf Englisch, und inspiriert übermüdete Ohren. Der Mond scheint, der Freitag naht.

Endlich Freitag

Endlich planbares Wetter. Amaranthe und Donots fotografieren und Iron Maiden nur gucken, weil die vertragsmäßig kaum Fotografen zulassen. Im Bus hören wir, wie ein fast Teenager auf die Frage seines Vaters, jetzt einmal die Legende Maiden erlebt zu haben, antwortet, die Broilers hätten ihr besser gefallen.

Kritischer Metal-Nachwuchs, doch auch uns überzeugte der undifferenzierte Sound der Metal-Urgesteine nicht. Das Kontrastprogramm steht mit dem nachfolgenden spirituell-hypnotisierenden Wardruna-Projekt. Auf der To-Do-Liste folgen Ville Vallo, Lord of the Lost und Solstafir. Tauschen, fallen lassen, sich neuen Ufern widmen. Bloodbath beispielsweise begeistern mit ihrem Death-Metal. Bei deutlich weniger Publikum als LoTL, leider. 25.000 Schritte Peak – Wackenwandern macht hungrig und überall auf der weitläufige Festivalarea locken Gerüche zum Essen fassen.
Die Preise differieren, aber es ist möglich, sich relativ günstig zu ernähren: Vegane Burger beispielsweise sind als Testangebot für 4 Euro auf dem Farmers Market erhältlich, ein Zyklopenspieß dagegen kostet 11 Euro, eine dick gefüllte Crepes sättigt für 8,80 Euro, Pizza variiert zwischen Stück und kompletter Runde für 9 Euro, Pommes XXL stehen hochpreisig bei 6,90 Euro, einen Rollmops mit Brötchen gibt es für 3,50 Euro, das Bier verteuert sich marginal auf 5,50 Euro pro 0,4 Liter, nichtalkoholisches in entsprechender Menge 50-100 Cent weniger. Über Schlafen reden wir nicht mehr, die Live-Musik endet erst um 2 Uhr.

Chillen am Samstag?

Mit Marty Friedman startet unser letzter Wacken-Tag, der ehemalige Lead-Gitarrist der Thrash-Metal-Band Megadeth zieht die internationalen W:O:A-Gäste an und für einen Mittag herrscht vor der W:E:T ein ziemliches Gedränge.

 

Viking-Metal mit Ensiferum folgt, dann Jinjer aus der Ukraine mit der Mega-Stimme und Performance von Tatiana Shmailyuk. Alestorm werfen in diesem Jahr keine Ente in die Crowd, dennoch geht diese zum Pirate Metal ab wie ein Zäpfchen und viele surfen Richtung Harder-Stage. Um 22.25 Uhr folgt im Programm ein TBA. In diesem Fall die Vorankündigung für das Wacken Open Air 2024 und der dritten Drohnen-Show, die zum Schluss einen QR-Code in den Himmel wirft. Thematisch stehen Witches and Worlocks Hexen und Zaubermeister auf dem Plan. Und wir sehen Social-Media-Sensation Peyton Parrish auf der Stage? Ja.

Die ersten Reaktionen auf die bereits feststehenden Acts zumindest klingen eher verhalten, oder die Fans sind müde. Wobei kurz nach Vorverkaufsstart das nächste W:O:A bereits wieder ausverkauft vermeldet. An diesem Tag endet das Festival für uns mit großem Kino: Two Steps from Hell mit Orchester zelebrieren epische Filmmusik. Weil erneut Regen angesagt ist, gilt die Empfehlung, wenn möglich, früher als Sonntag zu starten. Um Mitternacht treten wir mit unseren schlammverschmierten Aygo den Heimweg an.

Fazit: Durchwachsen lautet unsere Bilanz des W:O:A 2023, und das nicht nur in puncto Wetter. Statt 85.000 nur 61.000 Besucher, statt Einnahmen vom Camping am Festivalgelände Ausweichflächen in der Umgebung. Sieben Millionen Euro Verlust in 2023 verzeichnet nach Zahlen vom Sonntag das Wacken Open Air. 20-70 Landwirte mit Treckern schleppen im Dauereinsatz Wohnmobile und PKW entweder auf die oder runter von den durch Dauerregen versumpften Weiden. Ein Landkreis im Ausnahmezustand, der hinsichtlich der Wetterprognosen zumindest hätte erahnt werden können.

Ankündigung WOA 2024: Headliner und unter anderem auftretende Acts: Amon Amarth, Blind Guardian, Mayhem, Scorpions, In Extremo, Sonata Arctica, Watain, Knorkator, Soil, Pain, Ticketpreis: 333 Euro, ausverkauft nach 4,5 Stunden.