„Heute ist der Tag, der alles ändern wird. Heute nehme ich mein Leben in die Hand. Heute verlasse ich Hameln.“ – Denkste. Denn mit der Bahn gestaltet sich das nicht so einfach wie die Reisende Laura möchte. Zugausfall und Frust herrschen auf dem Bahnhof. Doch als die junge Frau aus einem Mülleimer heraus von einem Nagetier angesprochen wird, scheint nichts mehr zu sein, wie es sollte.
Mit dieser aberwitzigen Szene beginnt das zweite Buch „Wanderratten & Traumfänger“ der Jung-Autorin Laura-Luisa Neitz. Auf 80 Seiten erzählt die Hamelnerin ein nachdenklich-humorvolles Provinzmärchen für Leseratten von jung bis alt. In frechen, zeitgemäßen Zwiegesprächen mit der Ratte, Entschuldigung – sesshaften, klugen Wanderratte, werden Lesende gefangen und in die Handlung gesogen. Natürlich wird auch der historische Auszug der Hamelner Kinder, in Neitz´ Worten zusammengefasst Tanzwut, Epidemie, Kreuzzüge, die Suche nach dem eigenen Glück in der Ferne – thematisiert.
Das Büchlein ist gespickt mit handgefertigten Zeichnungen in warmen Farben und Anspielungen, wie der riesenhafte Schuh des Rattenfängers mit dem flüchtenden Nager im Ratsy-Style. Die Bilder illustrieren das fantastische Geschehen knuffig – oder mit leichtem Gruselfaktor. So ringelt sich beispielsweise der Rattenschwanz einmal rings um zwei Eishörnchen, igitt. Doch dazu regnet es rosa Herzen und -wer hätte es gedacht- es geht um eine unkonventionelle Liebesgeschichte.
Zurück zum Kopfkino-Bild. Vielleicht hilft der Traumfänger weiter? Verloren, gefunden, mit neuer Begegnung, ruft er mehrdeutig Leidenschaftliches hervor: „Doch meine Gefühle abschütteln kann ich nicht. Sie sind wie Treibsand. Je mehr ich es versuche, desto tiefer sinke ich ein und stecke fest“. Falls bisher nicht erwähnt, eine gute Portion Poesie enthält das Buch dito.
Klar erfüllt diese Mär eine Mission. In erster Linie regt sie zum Nachdenken über sich selbst an. Die Nicht-Verreisende erweitert ihren eigenen Horizont -entgegen der allgemeinen Überzeugung – damit, indem sie bleibt, wo sie ist. In ihrer Heimatstadt. Um durch die Augen eines Fremden, eines Zugereisten, eines Einwanderers, die eigene Umgebung für sich selbst neu zu entdecken, Vorurteile zu überwinden und sich entgegen dem Trend, im Sesshaft-Sein Träume zu erfüllen. Mit idealistisch-progressiven Gedanken wie „Jede noch so schwierige Wahl ist unendlich viel besser als jeder noch so kleine Zwang“, gelingt dieser Trip in eigene Ich verflixt packend.
Fazit:
Unter der Regie des Verlages story.one legen Jung-Schriftsteller/innen ihre Werke auf. Gemäß deren Motto „Life is a story“ verführt Laura-Luisa Neitz in ihrem Buch „Wanderratten & Traumfänger“ mit wohlgesetzten Worten dazu, Alltägliches durch die Augen eines anderen zu sehen. In diesem Fall sind das die Kulleraugen ihrer fantastischen Wanderratte, der sie mit eigenen Zeichnungen Persönlichkeit einhaucht.
Ich habe mich beim Lesen sofort in diesen philosophischen „Stadtführer“ verliebt und das unterhaltsame, einfühlsame Buch in einem Zug gelesen. Es passt mit seinen klugen Betrachtungen perfekt in diese besinnliche, gefühlsgeschwängerte Zeit, wo Frau/Mann es sich gerne mit einem Tee auf dem Sofa bequem macht. Trotzdem die fantastische Geschichte in der niedersächsischen Kleinstadt und mit sagenhaftem Bezug zu deren berühmten „Rattenfänger“ spielt, begegnen wir wiedererkennbar den Menschen, die einem eigentlich überall begegnen.
Wer mehr von Laura-Luisa Neitz lesen möchte. In ihrem Erstling „Sprachlos & Wortvoll“ beleuchtet Neitz mit viel Humor ihre Sprechangst und eine wenig bekannte Eigenschaft namens Mutismus.
„Wanderratten & Traumfänger“
Länge: 80 Seiten
Erschienen: 25.08.2023
Verlag: story.one publishing
ISBN: 978-3710862342
Preis für das gebundene Buch: 18 Euro
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