Start Allgemein „Totentanz“ – von und mit Oberer Totpunkt – Review

„Totentanz“ – von und mit Oberer Totpunkt – Review

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Das Musikprojekt Oberer Totpunkt (OT) bietet seit 2006 Starkstrom-Storytelling, welches Gothic-Fans von den Lauschern bis hin zu den Füßen elektrisiert. In ihren Konzeptalben der avantgardistisch-elektronischen Art arbeiten die Masterminds Bettina Bormann und Michael Krüger stets ein in sich geschlossenen Thema auf.

Zuletzt erschien vor fünf Jahren mit „Neurosen blühen“ ein epischer Silberling rund um Zivilisationsangst. 2021 pressen OT den menschlichen Lebenszyklus mit all seinen Dämonen in die runde Form, doch pandemiebedingt erscheint das aktuelle Album „Totentanz“ erst am 25. März 2022. Es triggert wie ein Kolben den G-Punkt des Dark Wave.

Die Maschinentechnik beschreibt den Begriff „Oberer Totpunkt“ als den Zeitpunkt, der entscheidet, ob der Motor zündet oder abwürgt. Oder anders gesagt, die entscheidende Gratwanderung, ob man versagt oder gewinnt. Das Trio OT steht für Endzeit-Lyrik und elektronische Drum-Dance-Mixe, mit ein bisschen was von allem, was das schwarze Herz begehrt: EBM, NDH, Wave, Rockgitarre. Warum sie nicht singt, erklärt die Frontfrau in einem Interview so: „Wo OT stattfindet, ist Gesang schon längst verstummt.“ Wir lauschen rein.

Von eins bis sechzehn – individuell OT

Nach einem hingehauchten Willkommen – Bienvenue – Welcome – Bienvenidos folgt beim Opener „Oberer Totpunkt“ das Kommando zu einer perfekten NDH-Breitseite.

Wer sich fürTotentanz wünscht, die archaisch tiefen Drumbeats live zu erleben, sei gewarnt. „Von der Wiege bis zum Kranz“ lauern in dieser rabenschwarzen Gruselgeschichte unsichtbare Dämonen den in Ekstase Tanzenden auf.

In Mexiko kommen die Toten alljährlich zu Besuch aus dem Jenseits. Am Dia de los Muertos feiern sie gemeinsam mit den Lebenden ein Fest. Im gleichnamigen Song, der in seinem Begehren, die Verstorbenen wiederzusehen, foltert, stehen die aufwühlend gesprochenen Worte in krasser Interaktion zum exzessiv ins Blut gehenden EBM.

Scharlachroter Schnee“ mit seinem Mix aus Synthie-Parts, stoischen Drums und Bormanns toxischer Sprache ist Düsterrock par Excellence. Die schaurige Story dahinter handelt von mörderischer Eifersucht. Edgar Allen Poe winkt aus dem Hintergrund. „Liebeleid“ spinnt das begonnene Drama lyrisch fort.

Der Staccato-Wave-Abräumer „Jetzt oder nie“ übt sich in melodischer Kargheit und ertrinkt textlich in Wortspielen wie: „Will auf Wolkenbergen tollen, will um des Wollens Willen wollen!“ Lyrics, die so auf Sonnenstrahlen tanzen, gelten als Schlager. Kämen sie nicht von einer begabten Songpoetin.

Reduzierte auf- und abschwellende Synthie-Passagen begleiten die Sprechende auf „Zeit verfliegt.“ OT buddeln sich tief in ihr eigenes Genre „Neue Deutsche Totkunst“ ein. Die Redaktion garantiert Dramatik.

Mitten ins Herz“ trifft als melancholische Rezitation mit Pianountermalung zentral den Nerv dunkler Seelenqualen. Stark geschilderte persönliche Erinnerungen an eine Kindheit, an Dinge, die nie mehr sind, wecken berührend den Wunsch, die Zeit zurück drehen zu können.

Vom prosaischen „Tänzer im Regen“ und den minimalistisch tröpfelnden 80s-Clubsounds gefangen, pausieren wir an der Theke und lauschen.

Der hypnotisch-düstere Synthie-Dance-Track „Auf der Dunklen Seite des Mondes“ zieht zum Schwof zurück auf die Tanzfläche. Wir befinden uns auf dem Deck eines schlingernden Narrenschiffs inmitten einer Welt, die sich selbst zerlegt. Endzeit-Visionär  kratzt das avantgardistische „Dystopia“ die Psyche. Low-Tempo, hingehaucht, Death-Art.

Mit „Fake leben“ inklusive Trommelapokalypse und bretternder Gitarre haut uns die Hamburger Künstlertruppe einen NDH-Burner um die Ohren, der nach Headbangen verlangt.

Das Video zum EBM-Track Die Krieger ging am 18. Februar online, nur eine Woche vor dem Ukraine-Krieg. OT thematisieren Selbstgerechtigkeit, Rechthaberei, Unterdrückung und Unfähigkeit zu Toleranz und erweisen sich mit der auf den Punkt gebrachten Kritik als beklemmend aktuell, denn „Nur wer den Blick hinter den Vorhang wagt, wird gewahr, was sich hinter den Kulissen abspielt …“.

Gemäß dem Spiel des Lebens stehen mit „Rot-Schwarz-Herz“ und „Rien ne va plus“ zwei Lieder an, die sich nach dem Motto „Hast du schon gehört“ passagenmäßig wiederholen. Wobei ersteres mit deutscher Härte musikalisch gründlich eskaliert, während letzteres jazzmäßig im vergangenen Jahrhundert chillt und an Babylon Berlins Filmschlager „Von Asche zu Staub“ erinnert, ohne schwülstig zu sein.

Nach 68 Minuten Spielzeit schließt sich der Kreis, denn „Am Ende holt uns der Teufel ja doch, doch wir hoffen auf ein Wunder. Mitgefangen, mitgehangen, mit Feuer und Schwefel untergegangen“. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Fazit: Um mit Oberer Totpunkt im dunkeldüsteren Kopfkino gedanklich abzuhängen, gehört „Totentanz“ in den heimischen Player. Bormann ist nicht nur eine exzellente Wortartistin, sondern mit einer ausdrucksstarken Stimme gesegnet, die so manchem Sänger fehlt. Multitalent Krüger trommelt die Höhepunkte und wirft für die expressiven Texte seiner Partnerin seine ausgefeilte Synthie-Wave-Klangmaschine in Gang. Treffender als mit den Worten aus dem finalen Song „Unterer Totpunkt“ lässt sich dieses Album nicht beschreiben: „Opulent. Vehement. Virulent. Dekadent“- Eine klare Kauforder. Damit steigt die Vorfreude, die Band endlich wieder live zu erleben, enorm.

Punkte: 9,5 von 10

Trackliste:

01. Oberer Totpunkt
02. Totentanz
03. Dia de los Muertos
04. Scharlachroter Schnee
05. Liebeleid
06. Jetzt oder nie
07. Zeit verfliegt
08. Mitten ins Herz
09. Tänzer im Regen
10. Auf der dunklen Seite des Mondes
11. Dystopia
12. Fake Leben
13. Die Krieger
14. Rot, Schwarz, Herz
15. Rien ne va plus
16. Unterer Totpunkt

Oberer Totpunkt:
Bettina Bormann (Lyrics & Vocals, Gitarre, Querflöte, Theremin)
Michael Krüger (Composition, Bass, Synthesizer, Drums, Back-Vocals)
Stefan Frost (Gitarre)

Totentanz
Label: Danse Macabre Records
VÖ: 25.03.2022
Genre: Neue Deutsche Totkunst, EBM, NDH, Dance, Dark Wave, Electronic
16 Titel, 68 Minuten

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